Fatale Phantome

«Ich habe einen Sohn und drei Abwaschmaschinen», pflegte der Grossvater zu sagen. Er meinte mit den Abwaschmaschinen seine Töchter, die es auch noch gab.
Die dynamische Frau in meiner Praxis erzählt mit bedenklicher Selbstverständlichkeit von den verbalen Gepflogenheiten ihrer Herkunftsfamilie. Ob es neben dieser massiven Abwertung auch sonst gewalttätig zuging, wollte ich wissen. «Gewalttätig? Wie man es nimmt. Damals war das normal. Da haben die Mädchen einfach eine gekriegt, wenn was nicht gepasst hat».

Das normale Damals

Das normale Damals ist wenige Jahrzehnte her: Keine Not, kein Krieg, sondern stabile wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in der Schweiz. Und wir wissen es: Dieses Damals ist heute, selbst in besten Familien.
Einige Zahlen zu häuslicher Gewalt in der Schweiz, im Zeitraum 2009 - 2021[1]

  • Alle zwei Wochen stirbt eine Person infolge häuslicher Gewalt; durchschnittlich 25 Personen pro Jahr, davon 4 Kinder

  • Jede Woche erfolgt ein Tötungsversuch.

  • Opfer von vollendeten Tötungsdelikten wurden: 329 Personen: 74,8% davon waren Frauen und Mädchen, 25,2% Männer und Jungen.

Dem Vater der Klientin, wir nennen sie Frau S., hat das Sohn-Sein unter diesen Bedingungen offenbar auch nicht gutgetan. «Er war ja auch lieb», sagte sie «aber man wusste nie, wann ein Schalter umkippt, und dann hat er uns verdroschen. Die Mama und uns Schwestern.» Das war so und sie haben es überlebt. «Nein, offizielle Beratung oder rechtliche Unterstützung gab es nie. Die blauen Flecken waren als dumme Ausrutscher bei der Hausarbeit deklariert.» Nachbarn, Familie, Freunde wussten, dass die Spuren auf die psychische Verfasstheit und Gewaltbereitschaft des Vaters zurückzuführen waren. Darüber wurde geschwiegen, solcherlei galt und gilt als private Angelegenheit.

Frau S. ist jedoch nicht wegen der Erniedrigungen oder Schläge hier, die seit Generationen dazu gehören, sondern wegen eines besonders erschütternden Ereignisses: Eine ihrer Tanten, die als «Abwaschmaschinen» aufgewachsen sind, wurde vor knapp zwei Jahren unter dubiosen Umständen getötet. Sie selbst erlebte zudem schon mehrfach in ihrer unmittelbaren Umgebung schwere Verbrechen. Wenngleich nicht direkt Opfer, so schwelt massive Gewalt grenzverletzend in ihrem Leben.
Zuvorderst sucht Frau S. aber Unterstützung, weil sie etwas für die tote Tante tun will. Wie viele Überlebende aus gemeinsamen Schicksalen oder Nahestehende von dramatisch verstorbenen Menschen spürt auch sie eine Art Verpflichtung, etwas gut zu machen, zu einem Frieden beizutragen, genauer gesagt zu einem Seelenfrieden.

An dieser Stelle könnten wir darüber nachdenken, ob es Seelen und ihren Frieden gibt und ob für sie etwas getan werden kann; ob traumatische Ereignisse tatsächlich lange Zeit in ein weiteres Umfeld hineinwirken und wie solche Dynamiken geschwächt oder unterbrochen werden; oder ob es angemessener ist, Betroffene schlicht in ihrer Resilienz anzusprechen.

Rechtsempfinden

Diesmal folge ich jedoch jener anderen Spur, die sich in der Geschichte dieser Familie als Beispiel für viele, viele andere wiederfindet: Es ist die Fähigkeit bzw. ihr Mangel etwas als Unrecht zu erkennen und anzusprechen. Es geht um Urteilsvermögen und die Tatkraft, es einzusetzen. Nicht, dass das Erkennen von Unrecht die Lösung aller grausamer Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse wäre, aber immerhin gäbe es Orientierung und Ausrichtung. Es gäbe einen Kompass, an dem entlang sich bessere Verhältnisse bilden könnten.
Das Nicht-Erkennen oder Nicht-Anerkennen von Unrecht jedoch, ist in vielen Fällen ein Antreiber von brutaler Eskalation; das spiegelt sich leider auch in der Dynamik von der «Abwaschmaschine» zum gewaltvollen Sterben. 

Jedes Empfinden von Recht hat seine Zeit, seine sozialen und gesellschaftlichen Räume, sein Land, sein Wetter und seine Umstände. Die Wahrnehmung dessen, was gut, recht, angemessen, lebensfördernd und befriedend ist, fällt nicht fertig verpackt vom Himmel, sie ist ein ständiger dennoch behäbiger «Aushandlungs-Prozess» sozialer, ökologischer, biologischer, psychischer Erfahrung und Kommunikation. An sie knüpfen sich Worte und Konzepte wie Moral, Gewissen, Vernunft, Ethik, Menschenrechte, Rechtssysteme – auch sie sind ständigem Wandel unterworfen.
Eng verknüpft mit dem Empfinden von Recht, sind auch Gefühle und Handlungen, die bei Unrecht zurecht auftauchen. Wem Unrechtes widerfährt, darf wütend sein, empört, verärgert und hat ein Anrecht auf Wiedergutmachung oder zumindest Genugtuung. Wenn Unrecht unter dem Mantel der Normalität unsichtbar wird, verliert sich auch das Recht auf Wut und Ausgleich. Im Gegenteil: Wer dennoch wütend wird, hat mit Bestrafung zu rechnen. Viele Frauen und Mädchen, auch Frau S., kennen das nur zu gut.

Geschmacksverwirrung

In den vergangenen Jahrhunderten war es Mainstream, an eine fortwährende, wenngleich in Pendelbewegungen sich vollziehenden, «Verbesserungen» der menschlichen Moral zu glauben. Der Mensch - hier oft gleichbedeutend mit Mann - ist also dabei, sich aus seinen groben, dumpf-dunklen und grausamen «Anfängen» hin zu einem wahren, guten und schönen Geschöpf zu entwickeln.

Heute kommen zahlreiche und mehr werdende Wissenschafter:innen zu einer anderen Schau: Die menschliche Spezies, die seit rund 2 Millionen Jahre den Planeten Erde mitbewohnt, hat die längste Zeit ihrer  Existenz in kooperativer Kohärenz unter sich und mit der Umgebung gelebt. Sie hat das genetische Potential, es auch heute noch zu tun: Gleichberechtigung von Mann und Frau, Akzeptanz von Pluralität, ökologische, fürsorgliche Verbundenheit mit der Erde und das gelebte Begreifen von zyklischen Zusammenhängen – das sind nicht Errungenschaft der Spätmoderne, sondern eine Wiederentdeckung einer lang praktizierten Lebensweise. In diesem nicht zuletzt genetischen Erinnerungsarchiv, ich habe es andernorts als Archiv der Zuversicht[2] beschrieben, wohnen auch Urteilskraft und Rechtsempfinden.

Das Empfinden, dass Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung normal, natürlich und rechtens sind, ist nicht der menschlichen Spezies eingeboren. Es ist nicht nach ihrem Geschmack: «Der Geschmack ist das Vermögen, mit dem wir uns in die Welt einpassen, in ihr wählen, was zu uns gehört und was nicht – Dinge, Menschen, Handlungen», schreibt Hannah Arendt in einem ihrer Denktagebücher.[3] Wir müssen annehmen, dass sich der heute noch prägende Herrschaftsgeschmack in den letzten Jahrtausenden «gewaltsam» etabliert hat und fortwährend angepasst wird.

Heute ist es wohl kaum mehr zulässig, in Eisen gekettete, zum Verkauf angebotene Menschen für eine rechtmässige, vernünftige und ethisch korrekte «Sache» zu halten. Wenngleich Menschenhandel und moderne Formen von Sklaverei nicht aus der Welt geschafft sind[4], werden sie immerhin nicht für «ganz normal» gehalten oder wenigstens nicht so kommuniziert, sondern für Tatsachen, die nicht gut sind und daher Aufmerksamkeit und Gegensteuer brauchen.

Fatale Phantome 

Auch in den Vorstellungen zu dem, was Frauen sind und welches Lebensrecht sie haben, hat sich im letzten Jahrhundert dank Mut, Einsatz und Einsicht vieler, Einiges verändert.
Aus der Sicht von Maskulinisten, religiösen Fundamentalisten und (oftmals) Rechts-Konservativen sogar viel zu viel![5] Sie wähnen in feministischen Stimmen eine satte Gefahr, gegen die sie zum Kampf rufen. Erniedrigung, Verleumdung, Vergewaltigung und Quälerei, wenn nötig Tötung von Frauen (und solchen, die ihren jeweiligen männlichen Reinheitsgeboten nicht nachkommen) gehören zu ihren Mitteln; soziale Plattformen im Internet sind ihr bevorzugter Versammlungsort.

Solche patriarchal-reaktionären Strömungen platzieren sich hinein in eine menschliche Welt, die noch lange nicht eine stabile Neukalibrierung ihres eigentlichen Geschmacks durchlebt hat. Seine Verzerrung sitzt tief in so vielen an so vielen Orten unseres Planeten. Daran können auch Gesetze und Bestimmungen nur langsam etwas ändern. Hineinverbunden in vielerlei kommunikative Netzwerke bleibt das Säugetier Mensch ein träges Wesen. Dass kein Mensch einen anderen Menschen besitzen kann und somit auch Frauen nicht die Sklaven ihrer oder andere Männer sind, ist gesetzlich geregelt – ist Menschenrecht. Dennoch verhalten sich viele Männer, als wären sie Besitzende. Und verhalten sich Frauen, als wären sie Besitz. Es sind wie gespenstige Schatten aus einer Epoche, in der diese Besitzfragen noch anders geregelt wurden, schreibt Eva von Redecker[6] und führt in Analogie zum Phantomschmerz, den Begriff des Phantombesitzes ein.

«So wie ein Schmerz an einer leeren Stelle, dort, wo früher ein Glied war, dass man kontrollieren konnte, bleiben die gegenstandslosen Herrschaftsansprüche bestehen. Sie bilden Phantombesitz.» (2020, S. 34)

Sobald Gewalt gegen Frauen biologistisch erklärt, für normal und gerechtfertigt gehalten wird, ist ein Gemenge von Phantomgefühlen und Empfindungen am Werk, das dazu beiträgt, dass schlimme (Herrschafts-)Verhältnisse weiter herrschen, mitunter sogar wieder hergestellt werden. Wenn in vielen Staaten der USA das Recht auf Abtreibung wieder aufgehoben wurde, wenn in Afghanistan Frauen wieder Burkas tragen müssen und Frauen in demokratischen Ländern in öffentlichen Führungspositionen Hasstiraden über sich ergehen lassen müssen, dann sind das schlimme, sehr schlimme, Rückfälle. 

Auch die Familie von Frau S. war mit bitteren Folgen von Phantomen konfrontiert. Als Psychotherapeutin mache ich weder Gesetze noch Politik im klassischen Sinn. Dennoch gestalte ich gesellschaftliche Wirklichkeit mit. Dabei spielen die Modelle und Überzeugungen, die meine Begleitung lenken, eine wesentliche Rolle. Und viele psychologische Schulen sind nach wie vor phantomtreu und sind weit davon entfernt, das Unrecht aus der inneren privaten Bühne in den öffentlichen Raum zu bringen. Zum Schutze der Klient:innen versteht sich. Das ist ein zweischneidiges Schwert.
Ich jedenfalls gehöre zu jenen Kolleg:innen, für die der safe space, der sichere Raum, nicht nur ein imaginatives, therapeutisches Mittel sein (bleiben) kann, der hilft traumatisierende Erfahrungen zu verdauen. Ich will ihn als Menschenrecht verstanden wissen. Vor diesem Hintergrund kann ich gemeinsam mit den Betroffenen daran forschen, ob Phantomgefühle allenfalls ihren Geschmacksinn belagern und sie dabei unterstützen, neue Perspektiven einzunehmen.

Für Frau S. jedenfalls war es wesentlich, Instanzen bei sich zu entdecken, die Unrecht und Recht neu erkennen und benennen können. Erleichternd hat sie das erlebt und befriedend. Es sind erste Schritte von vielen.

 Foto: Juliette Chretien

[1] https://www.ebg.admin.ch/dam/ebg/de/dokumente/Gewalt/Zahlen-zu-haeuslicher-Gewalt-in-der-Schweiz_April2021.pdf.download.pdf/Zahlen-zu-haeuslicher-Gewalt-in-der-Schweiz.pdf

[2] In Kreszmeier, Astrid Habiba, Natur-Dialoge, S 63 ff erläutere ich unter zahlreichen Quellenangaben die oben formulierten Hypothese.

[3] Hannah Arendt, Denktagebuch II, S 681 (April 1968). Gelesen in Eva von Redecker (2013), Gravitation zum Guten; Lukas Verlag, Berlin, S. 99

[4] Auch hier sind nach Statistik der UNO[4] knapp 70% aller aufgedeckten Fälle Frauen und Mädchen, https://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/glotip.html

[5] Vgl. Susanne Kaiser (2020): Politische Männlichkeit, Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen, edition suhrkamp

[6] Evas von Redecker (2020). Revolution für das Leben. Fischer, Frankfurt. S. 34 ff.

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