Finstere Zeiten? 3 Polymagisches

Es war ein anregender Abend in einer bunten Frauenrunde: Eine Kollegin, die in der ehemaligen DDR grossgeworden ist; zwei Schwestern, die in Minas Gerais und São Paulo, Brasilien aufgewachsen sind und studiert haben; eine Frau mit süddeutschen Wurzeln, deren Grosseltern nach Porto Alegre im Süden Brasiliens ausgewandert sind; eine Mozambiquanerin, die nach dem Studium in Angola tätig war und von dort in die Schweiz kam und ich als südtiroler-steirische Mischung. Was wir teilen ist die Erfahrung von Migration, das Wechseln von kulturellen Räumen, was wir lustigerweise auch teilen ist die brasilianische Sprache. Unter dem Titel «Sim para Poesia (Ja zu Poesie)» habe ich über mein neues Buch «Natur-Dialoge» und die Grundlagen des sympoietischen Ansatzes erzählt. Das ist auf Deutsch schon anspruchsvoll, umso mehr in fremder Sprache. Aber das lebendige Interesse in dieser klugen Runde hat alles in gutem Fluss gehalten. Irgendwann sind wir bei Narrationen und Mythen und Heldengeschichten gelandet und dabei, wie diese Erzählstrukturen unsere Wahrnehmung und Wirklichkeit prägen. Zum Beispiel, dass wir durch all diese Helden und Könige und Ritter und ihre Siege und Niederlagen durch und durch darauf eingestellt sind, dass es eben Helden, Könige und Siege gibt. Dass es einen starken Mann (in seltensten Fällen eine eiserne Lady) geben muss, damit die Dinge sich gut organisieren, damit es bergauf geht, damit es sicher ist, damit es in Ordnung ist.  

Die Struktur von Geschichten, die sich um einen, maximal zwei Protagonisten rankt, deren Leben wir verfolgen, mit denen wir mitzittern, mitlachen, mitweinen, auch die ist gelernt. Das Denken entlang einer Linie, eines uns sinnvoll erscheinenden Erzählfadens, auch das ist gelernt. Und das hat damit zu tun, wie die Geschichten und Mythen aufgebaut sind, mit denen wir gross geworden sind.
«Stimmt!» sagt Neusa aus Mozambik. «Ich erinnere mich, dass ich selbst erst begreifen und es mit meiner Tochter für die Schule richtig einüben und lernen musste, dass eine sinnvolle Geschichte hier in Europa einem Hauptdarsteller folgt; dass es um ihn geht und nicht um die vielen Nebengeschichten. Aber erkläre mal jemanden, der das nicht gewohnt ist, warum zum Beispiel der Hund mehr Aufmerksamkeit verdient als der Baum oder der Schmetterling. Warum es wichtig ist, einer Geschichte einen roten Faden zu geben und was eine gute Zusammenfassung von einem Text ist! All das ist in den Geschichten aus Mozambik nicht selbstverständlich. In ihnen gibt es viel mehr nebeneinander, sie sind nicht von einem Zentrum her erzählt.»



Drehbuch der Verschwörung

Nachdem wir im zweiten Teil an okkulte Orte mächtiger Ideen gereist sind, will ich wieder zurück ans Tageslicht und zur Frage: Was sind sogenannte verschwörende Theorien, wodurch zeichnen sie sich aus, welche Erzählmuster lassen sich ausmachen? Nach einigem Austausch mit Freund:innen und Kolleg:innen und gestreuten Recherchen wage ich folgende einfach gehaltene Beschreibung (nicht zu verwechseln mit Wahrheit) dieser Narration.

Eine Gruppe von Komplottisten, meist eine Elite, hat geheim etwas Böses im Sinn. Dieses Böse – es zielt auf Dezimierung, Plünderung und Beherrschung - richtet sich gegen das lautere Volk, den «normalen Bürger» und wird verdeckt durchgesetzt. Oft ist dieses Böse mit der Idee einer Totalherrschaft verbunden, das heisst, die betroffenen Opfer bemerken gar nicht, was ihnen geschieht; ja, sie finden das alles sogar normal oder gut. Diese Elite wird bereits als so mächtig vermutet, dass sie auch alle demokratischen Institutionen vor ihren Karren gespannt oder korrumpiert hat. Daher bemerken die meisten Menschen nicht, welch gemeines Spiel im Gange ist. Manche jedoch begreifen, was hinter ihren Rücken eigentlich geschieht und worauf all das hinauslaufen soll. Die Aufdeckung dieser Sachlage wird zur Aufgabe, ebenso die Kritik und die Infragestellung aller öffentlicher Entscheidungen, die als Teil des todbringenden Komplotts gesehen werden. So oder so keine schönen Aussichten.

 

Eine Erklärung für alles

Soweit ein mögliches Drehbuch der Verschwörung, dessen Erzähldichte von Angst, Empörung und Enttäuschung als zentrale Emotionen angetrieben wird. Für alle drei Gefühlslagen gibt es ausreichend faktuale Bedingungen (!!!), es wäre gar nicht nötig, Fiktionales beizumengen. Aber was wissen wir schon und lässt sich das alles wirklich nachweisen?
Befeuert wird all das jedenfalls durch den Glauben an eine personalisierte Macht, die in einem alles umfassenden Erzählstrang agiert. Das scheint mir ein wichtiger Gedanken. 
Donatella di Cesare, italienische Philosophin und Publizistin formuliert das so:
«An Verschwörung zu glauben, heisst, ein kursorisches und magisches Geschichtsbild zu akzeptieren, im Rahmen dessen alles auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann, die intentional agiert und mit einem subjektiven und beharrlichen Willen ausgestattet ist.»[1]

Ich folge di Cesare in ihren Beschreibungen, und verweile ein wenig bei jenem magischen Geschichtsbild, das alles auf Eines reduziert und für alles einen Erklärungsstrang findet. Genau genommen müsste sie von einem mono-theistischen, mono-mythischen Geschichtsbild sprechen, in das zumindest der abendländische Geist auch in seiner säkularisierten Form tief eingesunken ist und vice versa.

Monomythos – Heldenreise

Den Begriff des «Monomyth» hat Joseph Campbell[2] in einem Text von James Joyce gefunden und ihn dazu angeregt, die Erkenntnisse übergreifenden Mythenforschung mit diesem Begriff zu betiteln. Als Mono-Mythos ist eine in vielen Mythologien wiederkehrende Erzählstruktur zu verstehen, die sich rund um Helden dreht. Der Held (in seltensten Ausnahmefällen die Heldin) mag verschiedene Gesichter haben, ihre Geschichte ist jedoch von vergleichbaren Stationen geprägt. Sie müssen einem Ruf folgen, das Bekannte verlassen, Hilfen annehmen, viele kleine Prüfungen und einen besonderen Hauptkampf bestehen und reisen denn glorios in ihr Leben und ihre Gemeinschaft zurück, die ihnen Dank und Respekt zollt. Wir haben diesen Geschichtsaufbau in so vielen Variation gehört, gesehen und wieder erzählt. Er hat sich als Spur tief in unser narratives Gedächtnis gegraben. Wir haben gelernt unsere Aufmerksamkeit auf den Helden zu richten. Wir suchen förmlich nach ihm und seiner Reise, gleich wo wir sind. Erst, wenn wir ihn gefunden haben, verstehen wir den Plot, erst dann macht eine Geschichte Sinn, erst dann ist sie logisch. Während wir die Helden oder Antihelden suchen, entstehen sie fortwährend neu. So ist das eben eine sehr hartnäckige Geschichte, die sich ja auch in den verschwörenden Erzählräumen wiederfinden.

Das magische Denken in einer solchen Umgebung wird zu einem mono-magischen Denken, einem Denken, das sich auf ein Zentrum richtet und alle Erscheinungen rund um diese erklärt, alles Unerklärliche damit erklärt und so auch total-magisch agieren kann.


Poly-magische Denkübungen

Man möchte meinen, dass wir doch mittlerweile gelernt haben, dass die Welt nicht nur von einer Geschichte bewegt wird, sondern eben von vielen und dass diese in ihrem Zusammenspiel nicht nur vielfältig spontan, das heisst auch unberechenbar und unverfügbar, sondern durch ihre Verschiedenheit auch einander stabilisierend sind. Ein Totales wird darin bestenfalls zur be(un)ruhigenden Fiktion. Viele Soziolog:innen des 20igsten Jahrhunderts sprechen dabei von der Gesellschaftstheorie der funktionalen Differenzierung und unter anderem davon, dass es eben keinen alles integrierenden Sinnzusammenhang mehr gibt[3] – wie zum Beispiel den Glauben an ein Reich Gottes, dem alles unterstellt ist und das alles zusammenhält.

Bei genauerer Betrachtung konnte und kann sich diese Art von totalintegrativem Wahrnehmen und Denken trotz mono-mythischer Tiefenstruktur nur unter repressiven Bedingungen durchsetzen und musste (muss) zu seiner Verteidigung oder Einführung eine Reihe von Kriegen anzetteln. Sie scheint dem gesunden Menschenverstand nicht einfach nahe zu liegen;-) und schon gar nicht zugrunde. Dennoch ist die Idee verbreitet, dass sich erst das moderne - also aufgeklärte - Denken in die Fähigkeit zur Differenzierung hineinentwickelt hat, während davor hochreligiöses und noch früher magisch-mythisches Einer-Denken vorgeherrscht hat. Verschwörende Narrationen sind so gesehen ein Rückfall in magisch-mythische Mono-Erklärungen, ein Rückfall also in den vielfach erzählten und verfilmten Kampf zwischen Gut und Böse. 

 

Leider möchte ich sagen, sind diese gegenwärtigen Rückfälle eben nur ein leichtes, bequemes Sich-nach-hinten-Fallenlassen in noch bekanntes, allzu bekanntes Terrain. Wäre es nämlich ein richtig zünftiger Rückfall, hinein in Zeiten früh- oder gar vorschriftlicher Weltvorstellungen, dann würden sich dort vermutlich keine Mono-Haltegriffe anbieten, sondern eine Welt voller poly-magischer Konstellationen.[4]
In ihnen würde sich keine einfache Erklärung finden und schon gar nicht eine, die alles zusammenbringt. In ihr würden Komplexität und Widersprüchlichkeit wohnen, und wir müssten uns üben, in ständig sich verändernden Konstellationen zu leben und von ihnen berührt, bewegt und geschult zu sein. Wir müssten üben, mit wesentlich mehr Lebendigkeiten als heute angenommen zurecht zu kommen, und in all dem passende Sinngeschichten und Handlungsfelder zu bilden.

Das eine Böse, das uns und der Welt den Garaus machen will, würde darin wohl gar nicht auftauchen – wir hätten schlicht und ergreifend weder Grund dafür noch Zeit dazu;-)

Wir müssten üben, mit wesentlich mehr Lebendigkeiten als heute angenommen zurecht zu kommen, und in all dem passende Sinngeschichten und Handlungsfelder zu bilden.


[1] Donatella di Cesare: Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalismus, Konstanz University Press, 2020, S. 70

[2] Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Insel, 2011.

[3] Nassehi, Armin (2004): "Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik", in: Zeitschrift für Soziologie 33.2, 98–118.

[4] «Der Monotheismus, darin ist man sich heute wohl einig, ist kein ursprüngliches Phänomen in der Religionsgeschichte.» aus Assmann, Jan: Monotheismus und Kosmotheismus, Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 1993

Für das Beitragsfoto herzlichen Dank an Juliette Chrétien.

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