Finstere Zeiten? 2 Fatale Freiheit

Ende März 2020 war ein erdenklich ungünstiger Zeitpunkt für einen Umzug. Da man jedoch einen Wohnungswechsel eher lang- oder zumindest mittelfristig plant, haben die unfassbar kurzfristig eingeführten harten Lockdowns wohl manches Umzugprojekt verkompliziert. Umso schwieriger wurde es, wenn sich die Wohnungen jenseits von nationalen Grenzen befanden. In eine solche Lage geriet A., die ihren Wohnsitz von Lustenau in Österreich nach St.Gallen in der Schweiz verlegen wollte. Diese beiden Orte sind 30 km voneinander entfernt, unter «normalen» Umständen braucht man dafür nicht länger als eine halbe Autostunde. Das Bodensee-Rheintal-Gebiet ist seit langem ein ökonomisch und kulturell verwobener Raum, dessen Grenzposten nur Zollangelegenheiten abzuwickeln hatten. Zwischen Vorarlberg und der Ostschweiz wurde ohne grosse Hürden problemlos hin und hergezogen. Das sollte sich mit der Schliessung der Grenzen im Frühjahr 2020 ändern. Nichts war mehr einfach.

Auf der österreichischen Seite flankierten grosse, militärische Lkw die Strasse und mit ihnen eine Vielzahl von schwer bewaffneten Soldaten. Auf der Schweizer Seite war alles etwas sanfter, aber Hubschrauber patrouillierten regelmässig an der Flussgrenze. Es gab Abmachungen und Weisungen zwischen den Ländern, die sich von Tag zu Tag ändern konnten. Ob ein Umzug erlaubt war oder nicht, war gar nicht so einfach herauszufinden.
Als A. denn nach der telefonischen Bestätigung, dass sie mit Hausrat über die Grenze durfte, der Umzugsfirma das letzte Ok und den Schlüssel ihrer ehemaligen Wohnung ihrem Nachmieter gab und samt Hab und Gut an der Lustenauer Grenze ankam, hatten sich die Bedingungen jedoch schon wieder verändert. Keinerlei Grenzübertritte erlaubt. Wann sie wieder erlaubt sein würden, wusste keiner. Sie stand vor einer geschlossenen Grenze in einem Land, in dem sie kein Haus mehr hatte. Wohin nun mit den Möbeln, der Wäsche, den Büchern, der Küche? Wohin nur mit den Ängsten, der Ohnmacht, den Erinnerungen, der Geschichte. Als Enkelin von Flüchtenden, die ihre Häuser zurücklassen mussten, um sich mit dem Risiko vor versperrten Grenzen zu stehen auf einen langen, unsicheren Weg zu begeben, aktivieren solche Szenen das familiäre Gedächtnis schmerzhaft. Zeiten verschwimmen.

«Sie müsse es an keinem anderen Grenzübergang versuchen! Da müsse sie mit einer Busse rechnen», ermahnte sie der Zollbeamte im Ausnahmemodus, ehe sie von einem Soldaten zu ihrem Auto eskortiert wurde.
Letztlich konnte das Zügelunternehmen einen kleinen Stauraum für ihre «Ladung» auftreiben und A. bei einem Freund untertauchen. Mittlerweile haben ihre Möbel ihren richtigen Platz gefunden, aber der Schrecken sitzt noch gut verpackt in den Knochen.

 

Die im Krisen- und Schockmodus des Frühjahrs 2020 entwickelte interventionistische und rhetorische Kriegsstimmung sitzt vermutlich nicht nur A. oder anderen Bürger:innen in den Knochen, sondern auch den politischen Entscheidungsträgern selbst. Es ist nicht abwegig, in diesem Schockzustand verhaftet zu sein: Massnahmenkarusselle, Drohungen, Forderungen, Beleidigungen, Suche nach Schuldigen und Eskalationen waren und sind die Folgen. So wundert es nicht, dass grosse Verunsicherung aber auch Dreistigkeit eingezogen ist.

Dass nun just in dem Zeitraum, in dem die Pandemie zumindest auch europäischen Raum an Zugkraft verliert, Krieg in der Ukraine ausbricht und plötzlich jene Kriegsrhetorik grausam konkret Kontexte erhält, lässt viele Skeptiker:innen noch skeptischer oder aber noch handfester misstrauisch werden.

Darf ich noch denken, was ich denke? Fühlen, was ich fühle? Meinen, was ich meine? Ist meine Zugehörigkeit noch gesichert, wenn ich meine Meinung ausserhalb meiner Community äussere? Jedoch auch die andere Seite spricht: «Jetzt reichts! Ich lass mir von niemandem mehr den Mund verbieten! Lügenpack! Ich habe ein Recht auf freie Meinungsäusserung!
Wenn wir fürchten (müssen), mit dem, was wir sagen, in Verschwörungstheorieverdacht zu geraten, dann sind sowohl private als auch öffentliche Räume brüchig geworden und die Zeiten finster. Vom delikaten Eiertanz bis zum groben Schlagabtausch und allen Nuancen dazwischen, fanden sich wohl in den letzten Monaten so ziemlich alle Variationen in den meisten Familien, Freundeskreisen, Vereinen, Unternehmen oder Institutionen. Und wir können noch nicht wissen, wie das alles weiter geht. Und auch nicht, wie das alles erinnert und weitererzählt werden wird.

Der drängende Ruf nach einer «Wie-auch-immer! Hauptsache: Freiheit» scheint unter solchen Bedingungen legitim. Dumm ist nur, dass jene Parolen der Freiheit von politischen Kräften skandiert werden, deren Idee von Freiheit ein Freisein von Mit-Verantwortung einschliesst. Dumm ist nicht das richtige Wort, es ist erschreckend.

Dumm ist nur, dass jene Parolen der Freiheit von politischen Kräften skandiert werden, deren Idee von Freiheit ein Freisein von Mit-Verantwortung einschliesst. Dumm ist nicht das richtige Wort, es ist erschreckend.

 Tu, was du willst

Dazu fällt mir eine Geschichte aus scheinbar anderen Räumen ein:

«Tu, was du willst», war eine Sonderausstellung betitelt, die im November 2017 im Völkerkundemuseum in Stein im Appenzellerland in der Schweiz zu sehen war. Dort hatte sich bereits in den 50iger Jahre eine «psychosophische» Gemeinschaft, die Abtei Thelema, niedergelassen und eine riesige Sammlung okkulter Literatur sowie Gegenstände und Fotos hinterlassen.[1] [2]
"Tu, was du willst" war der Leitspruch dieser Thelemiten, die dort viele Jahre ansässig waren. Thélème wurde in einer fiktiven Geschichte von François Rabelais aus dem 16. Jahrhundert als ein "Ort des freien Willens" dargestellt, als Sinnbild des perfekten Staates und einer ebensolchen Gemeinschaft. Diesem Ideal eifert in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der britische Okkultist, Bergsteiger und Schriftsteller Aleister Crowley nach, an dem sich Thelema Stein vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren orientierte.
Hier versammeln sich sexualmagische Machtfantasien, spirituelle Überhöhungen, Wettkämpfe von Ekelhaftigkeiten und vermischen sich mit der Utopie einer besseren, ja perfekten Welt. Der Missbrauch von Kindern konnte der psychosophischen Gesellschaft der Abtei Thelema nicht nachgewiesen werden, trotz ihrer, von ihnen selbst beschriebenen, erotischen Kultpraxis. Auch die Erinnerung, dass die Gemeinschaft mitunter nackt im Garten tanzte, die wird im Dorf bis heute lebendig gehalten.

Nackt im Garten tanzen, das macht ja noch lange keinen satanischen Klan und auch erotische Freuden sind nichts Verwerfliches. Doch die damit verbundene Vorstellung, dass sexuelle Energie zu einer männlichen Superpower führt, durch die sich Freiheit und wahre göttlich-patriarchale Kraft einstellen, die wiederum perfekten Herrenmenschen dabei hilft eine perfekte Weltordnung zu «gebären» - das geht nun eindeutig zu weit. Viel zu weit.
Diese Art von Freiheitsliebe verknüpft mit Idealbildern einer «neuen Weltordnung oder einer natürlichen Herrschaftsgemeinschaft der Starken» ist lebensverachtend und zerstörerisch, gleich ob man sie kultiviert oder in eleganter Verdrehung wie in der QUanon Bewegung, die sich sogar bis ins Weisse Haus gebrüllt hat, verteufelt. Leider gehört sie zu einem gängigen Repertoire menschlicher Überzeugungen und narrativer Bündel, die sich zumindest seit der Schriftkultur am Leben erhalten. Nicht nur Aleister Crowley und die Thelemiten sind solchen Spuren gefolgt. Auch im Reigen rechts-nationaler Reinheitsideen, geben sie den Ton an. Etwas abgekühlter, aber dennoch unverschämt wirksam, sind sie in libertären Helden und ihren techno-feudalistischen Globallösungen für eine saubere Welt.

Heller werden die Zeiten dadurch auch bestimmt nicht.

Text: Astrid Habiba Kreszmeier
Foto: Juliette Chretien

[1] Die schweizerische Kulturwissenschafterin Ina Bösch hat daraus eine sehenswerte und bunte Ausstellung kuratiert, die gut besucht und diskutiert wurde.

[2] Geschichte am Rande: Unser Firmensitz von nature&healing befindet sich auch in diesem Dorf. Wir arbeiten
mitunter draussen und oft auch rund um ein Feuer. Es dauerte einige Jahre, ehe wir die auf uns projizierten Gespenster der Vergangenheit loswurden.

Für das Beitragsfoto herzlichen Dank an Juliette Chrétien.

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