Finstere Zeiten? 1 Conspirare

Es war Mitte Dezember 2021, an einem gemeinsamen Abendessen mit Kolleg:innen. Auf den Tischen dampften deftige Käsefondues, Sekt und Weisswein waren schon geöffnet, die Stimmung hätte einfach entspannt sein können. Sie war es aber nicht ganz. Vorausgegangen war ein Erzählen, wie es uns ging, was uns bewegt, beschäftigt. Es gab einige Stimmen, die von anstrengenden Zeiten sprachen, von Spannungen und Spaltungen, von existentiellen Unsicherheiten. Aber auch von glücklichen Fügungen und gutem Schwung. Und es gab auch solche, die inmitten der andauernden Krise und ihren hochgekochten Impf- und Massnahmenfragen, erschöpft, depressiv und vor allem auch zutiefst misstrauisch waren.

«Ich muss euch um etwas bitten» sagte M. überraschend eindringlich, nachdem wir uns freundlich zugeprostet hatten. «Ich muss es einfach loswerden und meine schlimmste Dystopie erzählen und ihr müsst mir beweisen, dass es nicht so kommen wird!», ist es aus ihr herausgebrochen und der scharfe Ton ihrer Forderung liess den Druck ahnen, unter dem sie stand. «Also müssen tun wir gar nichts» sagte jemand entschärfend «aber schiess los, erzähle deine Dystopie!»
«Also, es könnte ja so sein, dass wir alle schon längst überwacht, kontrolliert und manipuliert sind und dass, je länger der Spuk dauert, immer mehr finden, dass ja das alles gar nicht schlimm ist, sondern sogar angenehm. Ja, dass wir alle wie dumme Lämmer einfach tun, was die eingebauten Chips oder sonst eine Technik von uns will und denen, die davon profitieren, dienlich ist. Und es geht uns sogar gut dabei! Eine vollkommen schöne, neue Welt», sagte sie, steckte sich ein Brotstück auf die Gabel und rührte entschieden im Käsetopf.
Wie gut hatten wir diese lebendig brodelnde Masse zwischen uns, deren Flämmchen an und ab justiert werden müssen. Alle rührten im selben Käse, eine konkret verbindende Tatsache, die auch eine gewisse Aufmerksamkeit braucht – schliesslich will niemand seine Brotstücke im Käse verlieren und ausgeklügelte Strafen riskieren. Spätestens seit Asterix bei den Schweizern ist dieses sagenumwobene Gericht prägend in das europäische kulturelle Gedächtnis eingesunken.

«Ja, so könnte es schon rauskommen, durchaus.» meinte L. zustimmend.
«Was ist denn so schlimm daran, wenn es einem gut geht?» zischte G. genervt.
«Diese Dystopie – hat sich die auf der ganzen Erde durchgesetzt?», fragte jemand.
«Ja, auf der ganzen Welt, natürlich mit kulturellen Unterschieden, aber im Prinzip dasselbe», antwortete M.

Dieses «ja, auf der ganzen Welt» schickte mich innerlich auf geografische und historische Reisen: Bespitzelung und soziale Hetze gehörten und gehören zu totalitären Systemen. Geheimdienste sind ein legitimierter Teil von nationaler und globaler Sicherheitspolitik auch in demokratischen Ländern. Die neuen Medien screenen und verwerten ihre User ohne Ende, der freie Markt wälzt sich und die Digitalisierung in alle Täler und Berge dieser Welt. All das zieht durch mein Hirn, und dann hörte ich mich sagen: «Keine anderen Strömungen, alles dieser Schaltung unterworfen? Das wäre schwarze Totalmagie, an so eine Form von Magie glaube ich nicht, also ich glaube, dass sie nicht möglich ist. Dazu ist die Welt zu bunt.»
Das Wort Magie weckt andere Assoziationen, bringt eine andere Atmosphäre in den Raum. Plötzlich mischt sich in die aalglatte, transhumanistische Zukunftsvorstellung archaisches Zeug. Muscheln, Trommeln, Tänze, Kräuter, Zaubersprüche. Das mag manchen erscheinen, als würde man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, aber um den ging es gar nicht.

«Stimmt, an solche Magie glaubst du nicht. Darüber haben wir schon manchmal gesprochen. Ich wiederum neige dazu.» meinte M. sichtbar nachdenklich, aber weit weniger angespannt. Und dann ging das Fondue langsam seiner Neige zu, die Bäuche waren entsprechend schwer und der Kirsch lenkte die Konversation in andere Gefilde. Unter anderem zur Kappeler Milchsuppe, die auch rund um einen Topf genossen wurde und laut Legende 1529 vorerst einen Religionskrieg abwenden konnte und den Kappeler Landfrieden ermöglichte.

 

Conspirare

Jedes Atmen ist gemeinsames Atmen, ist con-spirare. Atmen setzt einen Austausch voraus, einen Raum, in dem dieser stattfinden kann und Organismen, zwischen denen er stattfinden kann. Ohne all das wäre Atmen nicht Atmen, wäre die Welt, wie wir sie kennen, eine andere und wären wir – Menschen und noch viele andere - gar nicht da.

So gesehen ist es ein Jammer, dass «Zusammen-Atmen» oder «miteinander Atmosphäre schaffen», also jener Milliarden-Jahre-alte Austausch rund um Stickstoff und Sauerstoff in Geschichten verwickelt wurde, die die Welt tendenziell in ihren Untergang hineinerzählen: in Konspirations- und Komplottgeschichten.

Fatale Verdrehungen hin oder her, es gilt anzuerkennen: Conspiracy-Theories, verschwörende Erklärungsmuster gehören zu unserem Geschichtsarchiv und gehen viral – so sagt man heute. Sie nisten sich in allerlei Räume quer durch unsere gesellschaftlichen Felder und Hierarchien ein. Mag sein, dass jene Menschen, die nicht gerade eben zu den Gewinner:innen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeiten gehören, besonders schwere Verläufe haben, doch die potenzielle Infektion macht auch vor der gut gebildeten, vernetzten und wohlhabenden «Minderheit» nicht halt. So kann es geschehen, dass ein anfängliches «schlechtes Bauchgefühl», ein gesundes Missfallen einseitiger politischer Kommunikationskultur, zusammen mit einer Reihe von Informationen zu einem satten Misstrauen gegenüber Formen und Institutionen demokratischer Ideen und Praxen werden. Mag kritische Wachheit sogar zur demokratischen Pflicht gehören, so wird sie - angereichert von verschiedenen Modellen von Komplottgeschichten - ihrerseits zur Gefahr fürs Demokratische. Ist sein soziales und kommunikatives, ja politisches Immunsystem geschwächt?

 

Private und öffentliche Autonomie – Brüchige Räume

«Das hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun», hörte ich in den letzten Monaten immer wieder Menschen sagen. Besonders dann, wenn sie sich zu einer Entscheidung, einer Faktenlage, ihrer Interpretation oder einer Meinung, die sie für «Mainstream» halten, kritisch äussern. Das hat tatsächlich nichts mit Verschwörung zu tun – im Gegenteil, sondern mit einem notwendigen Abwägen oder Aushandeln von Bedingtheiten und Bedeutungen gesellschaftlicher Bewegungen. Solche Diskurse gehören in die Öffentlichkeit, in einen öffentlichen sowie politischen Verhandlungsraum, der – so zumindest in der demokratischen Idee - möglichst inklusiv vielen diversen Stimmen Teilhabe und Gehör schenkt. Der Mainstream vertritt in ihm lediglich zeitgeschichtliche Hauptstimmen, füllt ihn jedoch nicht ganz aus. Wenn die Öffentlichkeit nur noch Mainstreamstimmen zuliesse, würden sich beide auflösen. Dann wären wir auch nicht mehr in einer demokratischen Öffentlichkeit.
Um diesen öffentlichen Raum ist es allerdings nicht so gut bestellt, oder besser: er ist fortwährend in Entwicklung und in ihm wartet noch einiges Verbesserungs-Potenzial! Er ist nicht jener Raum breiter Pluralität von Gleichwertigen, als der er gedacht werden kann. Das Recht und die reale Möglichkeit zur politischen Teilhabe, die auch politische Gleichheit voraussetzt, sind selbst in direkten Demokratien wie der Schweiz noch lange nicht selbstverständlich, wie sich an vielen Fragen rund um Rechte und Löhne von Frauen, Fremdarbeiter:innen und Migrant:innen zeigt.
Es ist um ihn - eigentlich wäre es auch hier besser von in der Mehrzahl zu sprechen - also es ist um die Vielzahl der öffentlichen Räume und Kanäle nicht gut bestellt. Wie sonst hätten wir in einer irrwitzigen Menge monatelang aufgezogene Spritzen an blauen Plastikhandschuhen, Fiebermesserpistolen an Stirnen von Kindern und würdeloseste Inszenierungen von hilflosen Impfoberarmen aushalten müssen, während uns jetzt eine Salve von Kriegsbombenbildern zu Militärexpert:innen macht. Abscheulich. Ehrlich.

Jener öffentliche Raum samt seinen offenkundigen Schwächen wird zusätzlich durch die Dominanz und Kraft der sozialen Medien übertölpelt.[1] Diese kommunikativen Tools täuschen einen egalitären, zumindest halb-öffentlichen Raum vor. In sogenannten kommunikativen Blasen oder Echokammern und gesteuert von profitgenerierenden Algorithmen können sie «falsche» Gewissheiten erzeugen, die dann «draussen» empört übereinander herfallen oder sich in Parallelwelten organisieren. All das fördert nicht gerade Vertrauen, weder im Einzelnen noch im Verbund.

Der chronische Mangel an öffentlicher Autonomie scheint für viele Menschen verdaulich, solange sie sich in ihrer privaten Autonomie[2] gesichert fühlen. Das autonome Individuum, dessen Privatheit, Eigentum, Meinungsrecht (die primär verstandenen Säulen von Freiheit) Schutz erwarten darf, ist seit mehreren Jahrzehnten das wirtschaftstreibende Element, der Star unseres elitären Wohlstands.
Diese private Autonomie gerät allerdings auch mehrfach unter Beschuss (in Kriegsgebieten leider nicht nur metaphorisch).

So geben wir sie als “User” kommunikativer Technologien zu einem guten Teil selbst Preis. Wir machen uns zum gläsernen Konsumenten und zur Ware zugleich. Ein erschöpfendes Spiel der Selbst-Optimierung. Und wenn zu dieser per Cookie- und Datenschutzverordnungs-Zustimmungen selbst gewählten und dennoch undurchschaubaren Aufmerksamkeitssteuerung noch handfeste, handlungseinschränkende Anweisungen der “öffentlichen Hand” dazu kommen, dann kann es schon mal vielen zu bunt werden. Und das tut es auch.
All das macht die Zeiten nicht heller.

[1] Martin Seeliger / Sebastian Sevignani (Hrsg.): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Leviathan-Sonderband 37, Baden-Baden 2021, Nomos

[2] Die Begriffe der privaten und öffentlichen Autonomie hat mir Danielle Ellen nahegebracht. Ihre Frankfurter Adorno-Vorlesungen sind unter dem Titel «Politische Gleichheit» von suhrkamp verlegt. 2020

Für das Beitragsfoto herzlichen Dank an Juliette Chrétien.

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Finstere Zeiten? 2 Fatale Freiheit

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Schluss mit Venus 1 Verdammt schön